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Vinzenz von Paul und Luise von Marillac
Eine bestimmte Kunst Entscheidungen zu treffen
Vinzenz von Paul und Luise von Marillac haben 35 Jahre lang gemeinsam für verbesserte Lebensbedingungen für all jene gearbeitet, die unter Armut und sozialer Ausgrenzung litten und auch um ihnen die unendliche Liebe Gottes zu allen nahe zu bringen.
Sehr augenfällige Unterschiede
Vinzenz von Paul, ein Bauernsohn aus der Gascogne, wurde im Schoße einer liebenden Familie aufgezogen.
Luise von Marillac, eine Pariser Aristokratin, wurde wegen ihrer unehelichen Geburt von ihrer Familie abgelehnt.
Vinzenz von Paul ist von jung auf unternehmungslustig, stürzt sich in verschiedene Initiativen, strebt eine Karriere und gute Einkünfte an.
Luise von Marillac wächst von klein an in Heimen auf, sie will sich in das Kloster der Kapuzinerinnen zurückziehen.
Vinzenz von Paul hat ein ländliches, bäuerliches Temperament in dem Sinne, dass er warten kann: „Nicht der Vorsehung voraus laufen“
Louise von Marillac, ist ungestümer im Verfolgen ihrer Ziele. Sie fürchtet sich nicht die Gesellschaft oder die Kirche herauszufordern: Sie ist eine de Marillac.
Wie konnten sie gemeinsam leben und arbeiten, da doch ihre Erziehung, ihre Persönlichkeit so ganz anders war? Wie haben sie es geschafft miteinander zu kommunizieren?
Beide waren etwa um ihr dreißigstes Lebensjahr mit schmerzlichen Fragen über Gott und ihre Zukunft konfrontiert. Vinzenz von Paul wird um das Jahr 1613 von Zweifeln über Gott gequält. Er wird sich bewusst, wie nutzlos, wie leer sein Leben als Priester war. Luise von Marillac verfällt um 1623 in eine „Nacht der Seele“, eine depressive Phase. Sie stellt sich Fragen über ihr Leben, ihre Zukunft und beginnt an der Existenz Gottes zu zweifeln.
Durch ihre Prüfung werden sie sich bewusst, wie gut Gott ihnen gegenüber ist, und sie haben den Wunsch, sich den Armen zu weihen. Ihre Liebe zu Gott und den Armen wird sie miteinander verbinden.
Aber das hat ihre Verschiedenheit nicht im geringsten eingeebnet. Viele Gegebenheiten zeigen uns, wie entgegengesetzt Herr Vinzenz und Mademoiselle Le Gras an Entscheidungen herangingen. Sie anhören und sie leben sehen, soll uns verstehen helfen, wie es ihnen möglich war, sich gemeinsam für eine Mission der Nächstenliebe zu engagieren und so Großartiges zu verwirklichen.
Einige konkrete Beispiele
Die Suche nach einem neuen Mutterhaus
Bei der Gründung der Genossenschaft im November 1633 hat Luise von Marillac fünf oder sechs Mädchen, die sich um sie scharten, bei sich in ihrem Haus in der Pfarre Saint Nicolas du Chardonnet, aufgenommen. 1636 ist die Zahl der Schwestern gestiegen und die kleine Gemeinschaft siedelt in das Dorf La Chapelle, im Norden von Paris, um. Vier Jahre später wird es im Haus wieder zu eng. Also heißt es, sich wieder auf die Suche nach einer neuen Bleibe zu machen. Luise hat etwas im Hinterkopf. Seit 1632 ist Saint Lazare, in der Vorstadt Saint Denis, das Mutterhaus der Missionspriester. Luise möchte, dass die Töchter der christlichen Liebe im selben Viertel wohnen. Aber Vinzenz zögert sehr:
„Vielleicht denken Sie, ich habe irgendeinen Grund, der Sie betrifft, warum ich es nicht für ratsam halte, dass Sie in diesem Viertel wohnen. O, nein, das ist es nicht, ich versichere es Ihnen! Aber es ist der: Wir sind mitten unter Leuten, die alles sehen und alles beurteilen. Man würde uns nicht dreimal bei Ihnen eintreten sehen und schon würde man daran etwas zu bereden finden und Schlüsse daraus ziehen, die man nicht soll, und man würde das verbreiten, wohin man geht …“.
Im September 1640 bittet Vinzenz von Paul die Damen der Caritasvereine in ihrer Umgebung nach einem entsprechenden Haus Ausschau zu halten. Zu Allerheiligen freut sich Vinzenz über das ihm angebotene Haus. Dieses Haus hängt vom Priorat Saint Lazare ab, sowohl hinsichtlich der Abgaben als auch der Gerichtsbarkeit. Herr Vinzenz lädt Luise von Marillac also ein, dieses Haus im Dorf La Villette zu besichtigen.
„In La Villette ist ein kleines Haus, es ist nur ungefähr ein Morgen, Haus und Garten zusammen. Es gehört der Pfarrei von La Villette und ist bezüglich Grundzins und Gerichtsbarkeit von hier abhängig. Es ist das letzte Haus von der anderen Seite des Dorfes und auf der Seite der Kirche, von der es nicht so weit entfernt ist wie das Ihrige. Man spricht von vier- oder fünftausend Francs. Es sind eines oder zwei Gebäude mit Scheune und Viehstall nach Art der Leute vom Land, es hat von der Seite und von rückwärts her Luft. Es ist das einzige, das in La Villette zu verkaufen ist; sehen Sie zu, was Sie davon halten …“.
Luise hat sich an Ort und Stelle begeben. Wir haben den Brief nicht, in dem sie diesen Besuch schildert. Aber sie hat diesen Vorschlag abgelehnt, denn man sucht etwas anderes. Es scheint, dass sie sich diesmal über die Bedenken des Herrn Vinzenz hinwegsetzen will.
Die Damen sprechen von einem Haus in der Vorstadt Saint Martin. Im Februar nimmt es Vinzenz von Paul in Augenschein und findet es zu klein. Am Morgen des 7. Februar teilt er Luise von Marillac seine Meinung mit:
„Ich habe gestern das Haus in der Vorstadt Saint Martin angeschaut, von dem ich Ihnen gesprochen habe. Aber es gibt nicht genug Wohnraum. Es wäre gut, wie Sie sagen, ehestens ein eigenes zu haben. Aber das ist nicht so leicht zu finden. Wir müssen das erste nehmen, das einstweilen zu mieten ist“[1].
Luise musste sofort reagieren: Sie möchte, dass das Haus gekauft und nicht gemietet wird. Wahrscheinlich hat sie in ihrem Brief unverblümt ihre Beunruhigung und ihre Ungeduld angesichts der Langsamkeit der Abwicklung (wir haben ihre Briefe nicht) zum Ausdruck gebracht. Die Antwort von Vinzenz von Paul lässt nicht warten, sie ist ziemlich harsch:
„Was die Wohnung in dieser Pfarre betrifft, muss man um jeden Preis eine mieten, bis eine Gelegenheit kommt, eine zu kaufen. Eine solche, wie man bräuchte, bietet sich nicht jeden Tag an.
Ich sehe Sie immer ein wenig in menschlichen Gesinnungen, sobald sie mich krank sehen, denkend, dass alles verloren sei in Ermangelung eines Hauses. O Frau von wenig Glauben und Einwilligung in die Führung und das Beispiel J.Chr.! Dieser Heiland der Welt verlässt sich für den Stand der ganzen Kirche, für die Regeln und Einrichtungen auf seinen Vater; und für eine Handvoll Töchter, die offensichtlich seine Vorsehung erweckt und zusammengeführt hat, meinen Sie, dass er uns fehlen wird!
Also, Mademoiselle, verdemütigen Sie sich sehr tief vor Gott, in dessen Liebe ich bin Ihr Diener, Vinzenz von Paul“[2].
Die Spannung ist groß, aber beide werden nachdenken und sich bemühen, die Reaktionen des anderen zu verstehen. Vinzenz hat das Wesentliche der Frage im Auge und beruhigt die Situation:
„Wegen des Hauses muss man noch weiter beten. Darüber mache ich mir nicht so viel Sorge, als wie wir Sie hier jetzt mietweise unterbringen können. O Jesus! Mademoiselle, Ihre Sache hängt nicht von einem Haus ab, sondern wohl vom weiteren Segen Gottes für das Werk“[3].
Eine neue Möglichkeit zeigt sich: Madame Maretz, die auf dem Boulevard Saint Denis, genau gegenüber von Saint Lazare wohnt, bietet ihren kleinen Besitz zum Verkauf an. Man einigt sich und der Kaufvertrag wird am 6. September 1641 unterzeichnet:
„Da ist endlich der Kaufvertrag des Hauses und das Geld ist übergeben.“
Das Haus wurde um 12.000 Livres gekauft. Die Kongregation der Mission übernimmt die Zahlung, denn die Töchter der christlichen Liebe haben zurzeit kein Geld. Die Genossenschaft zahlt die Summe im Jahre 1653 an die Kongregation der Mission zurück.
Die unterschiedliche Auffassung, welche Wahl zu treffen ist, hat zu offenen, aber barschen Erklärungen geführt. Dieser Austausch, bei dem man einander anscheinend keine Konzessionen gemacht hat, hat beigetragen, eine Lösung zu finden, die ohne Hintergedanken angenommen wurde. Die gegenseitige Hochachtung hat geholfen die Meinungsverschiedenheiten zu überwinden.
Die Aufnahme von kleinen Knaben in die Schule und von Pensionatsmädchen in die Häuser
Die Ratssitzungen der Genossenschaft tun oft kund, wie unterschiedlich Vinzenz von Paul und Luise von Marillac die Dinge hinsichtlich der Mission verstehen.
Im Rat vom 30. Oktober 1647 werden zwei Probleme zur Sprache gebracht. Herr Vinzenz, der den Vorsitz führt, legt den ersten Punkt dar.
„Mademoiselle Le Gras fragt, ob es angezeigt sei, dass unsere Schwestern in den Schulen, sowohl in der Stadt als auf dem Land, Knaben und Mädchen in ihre Schule aufnehmen, und falls sie auch Knaben nehmen, bis zu welchem Alter sie sie behalten können.“
Zuerst werden die Gründe von Mademoiselle, die der Aufnahme positiv gegenübersteht, dargelegt: Diesen kleinen Knaben werden die Grundlagen der Frömmigkeit beigebracht, und dies wird vielleicht die einzige Unterweisung sein, die sie erhalten. Denn sehr häufig gibt es in den Dörfern keinen Schullehrer. Außerdem wollen die Eltern, dass ihre Buben wenigstens einen ebensolchen Unterricht erhalten wie ihre Mädchen. Und es ist bekannt, dass diese kleinen Kinder (jünger als sechs Jahre) für die Lehrerin keine Versuchung darstellen können.
Vinzenz legt ganz gegenteilige Gründe vor: Gemischter Unterricht ist verboten, sowohl durch einen Erlass des Königs als auch durch einen des Erzbischofs. Die Schwestern sollen die Ersten sein, diese Verordnungen zu befolgen. Und Vinzenz untermauert sein Wort mit dem Hinweis, dass Schullehrer, die kleine Mädchen zusammen mit den Knaben aufgenommen hatten, verurteilt worden waren, lebendig verbrannt zu werden.
Die beiden anwesenden Schwestern werden befragt, die eine ist dafür, die andere dagegen. Herr Lambert, Assistent der Kongregation der Mission, ist eher dafür. Mademoiselle besteht darauf und sagt, dass sie einige Male zugestimmt hatte, denn manchmal kann ein Mädchen nicht zur Schule kommen, wenn sie ihren kleinen Bruder nicht mitnimmt, denn die Mutter ist nicht zu Hause, um auf ihn zu schauen.
Nachdem Vinzenz von Paul nochmals seine Gründe dargelegt hatte, schloss er:
„Aus all diesen Gründen wird es also gut sein, meine Töchter, dass man gar keine aufnehme. Wir sind zwei oder drei, die dieser Meinung sind, also bleiben wir dabei.“
Luise wird also widerrufen müssen, was sie einigen Häusern zugestanden hatte.
Dann wurde die Frage studiert, ob die Schwestern Pensionatsmädchen in ihre Häuser aufnehmen können. Auch diesbezüglich ist die Auffassung der beiden Gründer sehr unterschiedlich. Luise sieht darin Vorteile: Erziehung der Mädchen, finanzielle Hilfe für die armen Häuser. Vinzenz sieht viele Unzukömmlichkeiten: anderes Essen für diese Mädchen (das Essen für die Schwestern schien ihm zu ärmlich!), Gefahr für die Schwestern, ihre Schwierigkeiten in der Gemeinschaft merken zu lassen, Schwierigkeiten, die Überwachung dieser Pensionärinnen und die Regeltreue (Betrachtung) miteinander in Einklang zu bringen. Trotz des Beharrens von Luise ist der Entschluss von Vinzenz klar:
„Man muss also dabei bleiben, an keinem Orte solche Kinder aufzunehmen.“
Luise von Marillac wird den verschiedenen Gemeinschaften diese Entscheidung bekannt geben müssen, ohne durchblicken zu lassen, dass sie damit nicht einverstanden war; so schreibt sie im Mai 1655 an Barbara Angiboust:
„Herr Vinzenz hat eine ganz besondere Freude, wenn er von Ihnen hört, er ist der Ansicht, dass Sie Ihre Pensionärinnen wegschicken sollen, und sagt, es ist nichts für die Töchter der christlichen Liebe, solche zu haben. Tatsächlich, bei einem Rat, den man über mehrere Fragen hielt, wurde beschlossen, dass sie keine nehmen sollen, und das aus guten Gründen.“[4]
Eine Entscheidung, die nach gemeinsamer Überlegung getroffen wurde, kann dann nicht von dem einen oder anderen Mitglied infrage gestellt werden. Die totale Zustimmung zu einer Entscheidung des Rates, die nach Beratung getroffen wurde, ist unerlässlich.
Ist die Frage zu korrigieren, kann dies nur nach neuerlicher, gemeinsamer Überlegung geschehen. 1659 wird die Notwendigkeit, Pensionatsmädchen zu haben, von der Gemeinschaft in La Fère wieder aufgegriffen. Luise antwortet:
„Was die Pensionärinnen betrifft, erwägen Sie die Notwendigkeit und die Wichtigkeit, lassen Sie mich wissen, worauf Sie gekommen sind und ich werde die Anordnung unseres hochgeehrten Vaters einholen und Ihnen mitteilen.“[5]
Luise akzeptiert, eine Entscheidung, die 12 Jahre zuvor getroffen wurde, zu revidieren. Aber sie bittet die Schwestern, gemeinsam über ihre Gründe nachzudenken, diese gut zu erklären und ihr zu schicken. Die Mission entfaltet sich, die Antworten werden angepasst. Eine Entscheidung, die einmal getroffen wurde, kann abgeändert werden, wenn die Umstände sich wandeln. Man kann nicht bei dem stehen bleiben, was immer getan wurde.
Gab es über dieses Thema einen Rat und Überlegungen? Das ist wenig wahrscheinlich, der Brief Luises ist von Ende November 1659!
Bellarmin’s Katechismus und die Töchter der christlichen Liebe
In den Pfarren unterrichten die Töchter der christlichen Liebe die kleinen Mädchen im Katechismus. Sie sind im Besitz eines kleinen, von Luise von Marillac in Form von Fragen und Antworten verfassten Katechismus. Einige Schwestern würden gerne mehr über ihren Glauben wissen. Was soll man ihnen geben?
Herr Lambert, Missionspriester, hat den Katechismus von Bellarmin angeraten, aber Luise von Marillac findet ihn schwierig. Beim Rat im März 1648 wird die Frage behandelt. Einmal mehr tritt ein großer Meinungsunterschied zutage:
„Mademoiselle, es gibt keinen besseren Katechismus, als den von Bellarmin; und wenn alle unsere Schwestern ihn kennen und nach ihm unterrichten würden, so würden sie nur das lehren, was sie lehren sollen, nachdem sie dazu da sind, und sie würden wissen, was die Pfarrer wissen müssen“[6].
Und Vinzenz von Paul geht noch weiter. Er rät Luise von Marillac dringend, den Schwestern diesen Katechismus von Bellarmin vorzulesen und zu erklären:
„Es wäre gut, wenn er unseren Schwestern vorgelesen würde, und dass Sie selbst ihn ihnen erklärten, damit alle in seinen Sinn eindringen und ihn gut kennen, um ihn dann lehren zu können; denn nachdem es notwendig ist, dass sie unterrichten, müssen sie es zuerst selbst wissen, und sie können es nicht gründlicher lernen, als aus diesem Buch“[7].
Luise ist gegen die Entscheidung, aber sie erfährt, dass sie ihr zum Wohl aller auferlegt wird. Sie nimmt diese Situation an und wird sich bemühen, das Gute daran zu verstehen.
Eine wirkliche und wirkungsvolle gemeinsame Arbeit
Abschließend möchte ich aufzeigen, wie Vinzenz von Paul und Luise von Marillac es verstanden haben, über ihre tiefen Gegensätze hinwegzugehen. Ihre vielen Begegnungen haben ihnen geholfen, sich ihrer je eigenen Identität bewusst zu werden, die gegenseitige Ergänzung zu entdecken, sich selber anzunehmen und so eine wirkliche und wirkungsvolle Arbeit zu vollbringen.
Sich selber kennenlernen
Die Besonderheit jenes oder jener anzunehmen, mit dem/der man arbeitet, ist oft schwierig. Man muss den anderen mit seinen guten und mit seinen weniger guten Eigenschaften annehmen. Das setzt voraus, dass man sich selbst mit seinen Reichtümern und mit seinen Mängeln kennt.
Vinzenz von Paul und Luise von Marillac lernen sich nach und nach kennen. Sie sagen sich gegenseitig, was sie aneinander für gut oder schlecht finden.
Vinzenz von Paul war sehr rasch voll Bewunderung über die große Kompetenz der Luise von Marillac in ihrem Umgang mit den Damen der Caritasvereine. Er zögert nicht, ihr dies auch zu sagen:
„Ich finde alles gut, was Sie mir vom Caritasvrein melden, und bitte Sie, den Damen all das vorzuschlagen, was Sie in dieser Hinsicht für gut finden, und darüber zu beschließen, sowohl über das, was Sie mir schrieben, als auch über das, was Sie für das Beste halten“[8].
Er scheut sich aber auch nicht, sie auf einen Fehler hinzuweisen, der ihrer Tätigkeit hinderlich sein kann. Luise besucht gemeinsam mit Madame Goussault eine Bruderschaft:
„Ich bitte unseren Herrn, dass er Ihre Reise und Ihre Person segne und dass er seine Segnungen für Ihre Seele und die der Frau Präsidentin Goussault vervielfache. Ich bitte Sie sehr, mit ihr recht fröhlich zu sein, wenn Sie auch dabei etwas von dem kleinen Ernst verlieren, den die Natur Ihnen gegeben hat und den die Gnade mildert …“[9].
Vinzenz wird der Oberin der Genossenschaft auch sagen, dass sie gegenüber den jungen, in Ausbildung stehenden Schwestern zu fordernd ist. Vinzentia ist von Richelieu zurückgekommen und Luise beklagt sich über ihre Langsamkeit, das anzunehmen, was ihr gesagt wurde. Vinzenz empfiehlt ihr, geduldig zu sein.
„Es ist ein sehr gutes Mädchen und sie genießt in ihrer Heimat einen guten Ruf. Sie hat ihrer Herrin mit Ausdauer sieben oder acht Jahre lang gedient. Diese arme Frau ist so traurig wegen ihrer Abwesenheit, dass man es nicht sagen kann. Es gibt Geister, die sich nicht gleich allen kleinen Vorschriften der Regel anpassen können. Die Zeit tut alles. Ich mache diese Erfahrung unter uns jeden Tag“[10].
Luise hat eine starke Persönlichkeit, die sich in ihrer Hartnäckigkeit zeigt. Wenn ihr etwas als der Wille Gottes zu sein scheint, stürmt sie voran. Sie gebraucht dann eine starke Redewendung: „Im Namen Gottes“. Ist Vinzenz krank, verordnet sie ihm strenge Ruhe.
„Im Namen Gottes, mein Herr, Sie wissen, wie notwendig es ist, dass Sie sich ein wenig Zeit nehmen, um Ihre Gesundheit wieder herzustellen und danach zu trachten, sie für den Dienst Gottes zu haben“[11].
Angesichts des Geldmangels, um die Pensionen für die Findelkinder zu zahlen, schreit Luise ihr Leid hinaus und bittet Vinzenz von Paul inständig, etwas zu unternehmen. Für sie gibt es nur eine Lösung: keine neuen Kinder mehr aufnehmen.
„Im Namen Gottes, mein hochgeehrter Vater, denken Sie ein wenig daran, ob es nicht notwendig ist, diese Damen dazu zu bringen, dass sie es unterlassen, neuerlich ausgesetzte Kinder aufzunehmen, … wir können uns unmöglich des Mitleids erwehren, das diese armen Leute uns einflößen, wenn sie verlangen, was ihnen mit so viel Recht gebührt, … sie sehen, dass sie vor Hunger sterben müssen; und sie müssen drei- oder viermal von sehr weit herkommen, ohne Geld zu erhalten. … Verzeihen Sie meine gewohnte Lästigkeit, bitte …“[12].
Annehmen, dass man sich gegenseitig ergänzt
Gegenseitige Ergänzung will sagen, dass man es annimmt, seinen eigenen Mangel mit dem auszugleichen, was von einem anderen kommt.
Luise sagt sehr rasch heraus, was sie denkt. Dann entschuldigt sie sich bei Vinzenz von Paul in Briefen, die sie ihm schickt und in denen sie ihn gleichzeitig ersucht, nicht zu lange mit der Antwort zuzuwarten:
„Verzeihen Sie, dass ich Ihnen meine Gefühle so schnell hersage …“[13].
Luise weiß um ihre Eile, und Vinzenz zögert nicht zuzugeben, dass er aus Klugheit eher langsam ist. Das eine gleicht das andere aus.
„Mein Gott! Mademoiselle, wie glücklich sind Sie, dass Sie dieses Besserungsmittel für die Übereilung haben! Die Werke, die Gott selbst tut, werden durch das Nichttun der Menschen niemals verdorben. Ich bitte Sie, dieses Vertrauen auf ihn zu haben …“[14].
Vinzenz wagt es nicht, die vielen Menschen wegzuschicken, die ihn um Rat oder Hilfe bitten. Er gesteht, dass er sich überfordert:
Und weil ich bis über den Kopf in Anspruch genommen bin durch eine Menge von Exerzitanten, einen ernannten Bischof, einen ersten Präsidenten, zwei Doktoren, einen Professor der Theologie und Herrn Pavillon, und dazu noch unsere Exerzitien, all das, sage ich, hindert mich, zu Ihnen zu kommen. Schicken Sie mir darum, bitte, die Denkschrift, von der Sie sprechen“[15].
Aber Luise nimmt es nicht hin, dass Vinzenz die Konferenzen für die Töchter der christlichen Liebe auslässt. Sie wird ihm einen oder zwei Tage vor dem Datum eine kleine Erinnerung schicken:
„… Die Konferenz, die sie so gut waren, uns für morgen, Donnerstag, zu versprechen …“[16]
Ihre gegenseitige Ergänzung festigt sich. Jeder trägt seinen Stein zum Bau des von Gott gewollten Werkes bei. So auch bei der Abfassung der Regeln für die Töchter der christlichen Liebe:
„Das, mein sehr verehrter Herr, wäre es, was ich bemerkt habe; aber im Namen Gottes, achten Sie weder auf die Denkschriften noch auf die Bemerkungen, sondern ordnen Sie das an, was Sie glauben, dass Gott es von uns verlangt, und fügen Sie die Grundsätze und Lehren an, die uns aufmuntern und begeistert erhalten können und genau in der Beobachtung aller Punkte der Regel …“[17].
Die Heiligkeit war ihnen nicht angeboren. Wie für alle Heiligen hat sich dieser Weg zur Heiligkeit auf ihre Menschlichkeit gestützt. Ihre Konfrontation hat nach und nach ihre Persönlichkeiten umgeformt, vervollkommnet und verschönert. Ihre Verschiedenheiten wurden zur Quelle der Bereicherung für die gemeinsame Sendung.
Vinzenz und Luise werden den Schwestern klarmachen, dass sie untereinander in Einigkeit leben und ihre Verschiedenheiten annehmen sollen. Und um ihnen zu helfen, stellen sie ihnen die heiligste Dreifaltigkeit als Vorbild hin:
„Ich lege allen unseren Schwestern ans Herz, immer an die Mahnungen des Herrn Vinzenz zu denken, und besonders an die Ertragung und die Herzlichkeit, um die Einheit der Gottheit in der Verschiedenheit der Personen der Heiligsten Dreifaltigkeit zu ehren“[18].
Fragen zur Überlegung
1. Wie können wir angesichts unserer Verschiedenheiten die gegenseitige Hochachtung unter den Mitgliedern jeder Gruppe und zwischen den verschiedenen Zweigen der vinzentinischen Familie fördern?
2. Wie kann der Armendienst, trotz unserer Verschiedenheiten, zum Kriterium unserer Verbundenheit werden?
Schwester Elisabeth Charpy
Tochter der christlichen Liebe
[1] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – 7. Februar1641
[2] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – 7. Februar 1641, 14 Uhr
[3] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – Februar-März 1641
[4] Luise von Marillac an Barbe Angiboust - Mai 1655 – Geistliche Schriften, S.455
[5] Luise von Marillac an Mathurine Guérin – 1. November 1659, Geistliche Schriften, S.648
[6] Rat vom 22.März 1648 - Coste XIII, 664
[7] Rat vom 22.März 1648 - Coste XIII, 664-665
[8] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – 2. April 1631
[9] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – 30 August 1636
[10] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – um 1640-1641
[11] Luise von Marillac an Vinzenz von Paul – 11. August 1646, Geistliche Schriften, S.159
[12] Luise von Marillac an Vinzenz von Paul – Februar 1650, Geistliche Schriften, S. 315
[13] Luise von Marillac an Vinzenz von Paul – 1651, Geistliche Schriften, S.381
[14] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – 13. Oktober 1639
[15] Vinzenz von Paul an Luise von Marillac – Juni 1632
[16] Luise von Marillac an Vinzenz von Paul – 2.Mai 1646, Geistliche Schriften, S.143
[17] Luise von Marillac an Vinzenz von Paul – um 1651, Geistliche Schriften, S.386
[18] Luise von Marillac an Jeanne Lepintre – 1.Juni 1649, Geistliche Schriften, S.288