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Impuls 2/ Gedenkjahr 2010
Die vinzentinische Spiritualität:
Christus begegnen in den Armen
Die vinzentinische Spiritualität ist keine Lehre, sondern eine Begegnung. Eine solche Begegnung wurde mit Christus nicht in einer Vision erfahren, wie es z. B. beim hl. Franziskus in der Kirche von San Damiano der Fall war, als er meinte folgende Worte zu hören: „Geh und bau meine Kirche wieder auf.“ Die Begegnung, die der hl. Vinzenz und die hl. Louise mit Christus hatten, ereignete sich in den Armen. Das Thema wird in drei Teilen behandelt: kennen, betrachten, dienen. Zuletzt folgen einige Impulse für ein gemeinschaftliches Gespräch.
Kennen
Im 17. Jahrhundert war Spiritualität Mode. In den Salons sprach man von Gott. Bremond hat von einer „mystischen Invasion“ gesprochen. Madame Acarie geriet jedes Mal in Ekstase, wenn sie über Gott sprach. Man war der Meinung, die Heiligkeit wäre eine Angelegenheit der Mystik: heilig ist man, wenn man Visionen hat oder Wunder wirkt. Darum suchte man im Leben der Heiligen nach außerordentlichen Taten. So aber haben die gewöhnlichen Christen den Sinn ihrer Verantwortung verloren, sie sahen die Heiligkeit als etwas für sie Unerreichbares an.
Vom Standpunkt der Lehre aus hat sich das 17. Jh. mehr als alle anderen für mystische Phänomene interessiert. Es wurden Lehren und Systeme ausgearbeitet. Ausgangspunkt war die Unterscheidung Aristoteles‘ zwischen Theorie und Praxis, woraus sich zwei Arten von Intelligenz ableiten: die theoretische (die Kontemplation) und die praktische (die Aktion).
Die Kirchenväter haben diesen Gedanken auf die Spiritualität angewandt. Mit Gregor von Nazianz begann die Entwicklung der Theorie, wonach es drei Arten von geistlichem Leben geben würde: das kontemplative Leben (für die Mönche und Nonnen, es steht an oberster Stelle), das aktive Leben (für jene, die in der Welt leben, es ist weniger vollkommen) und das gemischte Leben (eigentümlich für die pastorale Tätigkeit, die Aktion und Kontemplation verbindet). Folglich dachte man, dass die Kontemplation dank des mystischen Weges leichter zur Heiligkeit führen würde, während die Heiligkeit für jene in der Welt nur auf dem Weg der Askese möglich sei. Es stimmt, dass der hl. Franz von Sales das Beispiel zweier Schwestern beschrieben hat: die eine, Nonne, lebte wie eine Weltperson, die andere, verheiratet, lebte wie eine Nonne. Für ihn waren alle zur Heiligkeit berufen. Aber dieser Gedanke wurde nicht einmütig akzeptiert. Die Ordensleute verteidigten heftig den Gedanken, dass allein sie „im Stande der Vollkommenheit“ wären. Der Gegensatz zwischen aktivem und kontemplativem Leben, zwischen Martha und Maria, spitzte sich zu.
Erfahrungen, die zueinander führen
Bezüglich ihrer geistlichen Erfahrung waren der hl. Vinzenz und die hl. Louise sehr verschieden. Die Wege, die sie beschritten hatten, führten jedoch zueinander.
Der Weg des hl. Vinzenz war ein Weg der „Spiritualisierung“. In einer ersten Phase seines Lebens suchte er sich selbst (bis 1608/1610). Dann machte er eine schwere „Krise“ durch, die ihn erkennen liess, dass es Gott ist, den der Mensch braucht.
Der Weg der hl. Louise war ein Weg der „Humanisierung“. Zuerst versuchte sie die Flucht in ein Kloster, dann wollte sie vor ihren familiären Verantwortungen fliehen, bis sie schließlich nach der Begegnung mit dem hl. Vinzenz verstand, dass es der Mensch ist, den Gott braucht.
In den zwei Erfahrungen in Folleville und Châtillon im Jahr 1617 und in der Pfingsterfahrung von 1623 entdeckten der hl. Vinzenz und die hl. Louise ihre Berufung, nämlich:
- Gott hingegeben zu sein,
- um „dem Nächsten zu dienen“, indem sie auf den Hunger nach dem Wort und auf den Hunger nach Brot Antwort geben.
Betrachten
Eine Spiritualität der Liebe
Der hl. Vinzenz hat oft das Bild vom Herzen verwendet. Gott ist der Gott des Herzens (XI, 156), „Er liebt mit seinem Herzen“ (XI, 102; 145-147): „Wir wollen also Gott bitten, dass er der Gemeinschaft diesen Geist gebe, dieses Herz, dieses Herz, das uns überall hin gehen lässt, dieses Herz des Sohnes Gottes, Herz Unseres Herrn, Herz Unseres Herrn, Herz Unseres Herrn (!), damit es uns bereit mache, so hinauszugehen, wie er selbst ging oder gehen würde, wenn seine ewige Weisheit es für angezeigt erachtet hätte, für die Bekehrung der armen Völker zu arbeiten.“ (XI, 291).
Seine Spiritualität war die des Geheimnisses der Liebe des Sohnes Gottes, der Mensch wurde und der in jedem Menschen gegenwärtig ist. Er war - wie Giuseppe Toscani geschrieben hat - ein Mystiker, der indem er Christus in den Armen sah, nicht „durch ein fantastisches Christusbild entrückt war“. Die Spiritualität des Mittelalters war, wie bei Platon, versucht, aus dem Leib auszubrechen, um sich nach oben zu erheben. Das Gebet sollte eine „Erhebung des Geistes zu Gott“ sein. Die Spiritualität des hl. Vinzenz folgte eher dem Impuls der Menschwerdung, der darin besteht, „dem letzten Menschen so nahe zu sein, wie Gott in Christus ihm nahe ist“. In der „Kenosis“ der Demut hat Vinzenz Christus und die Armen gefunden. Während man in der Tradition der Mystik von der „Nacht der Sinne und der Nacht des Geistes“ spricht, als Momente des Leer-Werdens um zur Schau des Antlitzes Gottes zu gelangen, lässt der hl. Vinzenz sich an das Kreuz der Armen, „seine Last und sein Schmerz“, schlagen. Darum werden die Armen, so wie Christus, „seine Herren und Meister“.
Die hl. Louise ihrerseits spricht von der „reinen Liebe“, das heißt von einer Liebe, die geläutert wurde von jedem Rest der menschlichen Liebe: „Je schwieriger es ist, an einem Ort zu dienen, sowohl wegen der Not als auch wegen anderer Schwierigkeiten, umso mehr muss man die Hilfe vom Himmel erwarten, wenn man um der reinen Liebe willen arbeiten will, was, wie ich glaube, Ihr Wunsch ist“ (Schriften, L 592, S. 607)
Im Herzen der Dreifaltigkeit
Das alles hat der hl. Vinzenz in das Innerste der Dreifaltigkeit hineingelegt. Er drückt diesen Gedanken aus mit dem Wort „honorer (verehren)“, ein Ausdruck, der Teilhabe, kindliche Dankbarkeit, Nachahmung Christi in seinem Blick auf die Dreifaltigkeit einschließt. Der hl. Vinzenz fühlte sich vom Vater geliebt wie der Sohn, er fühlte sich an den Tisch der Dreifaltigkeit eingeladen. Den großen Mystikern gleich hat er den Strom der Liebe der Dreifaltigkeit wahrgenommen: der Vater, der den ersten Schritt der Liebe setzt, der Sohn, der ihn aufnimmt und der Geist, der die Gemeinschaft und die Einheit bewirkt.
Die hl. Louise ihrerseits fühlt sich erfüllt vom Geist, so als hätte sich der Heilige Geist in sie ergossen: „Nimm weg meine Blindheit, du ewiges Licht; mache einfach meinen Geist, vollkommene Einheit; mach mein Herz demütig zur Grundlage für deine Gnaden; und möge die Kraft zu lieben, die du in meine Seele gelegt hast, sich nicht mehr aufhalten lassen durch die Unordnung meiner eigenen Überheblichkeit, die in Wirklichkeit nichts ist als Ohnmacht und Hindernis für die reine Liebe, die ich durch die Eingießung des Heiligen Geistes erhalten soll“ (Schriften A 26, S. 807-808).
Aus der Dreifaltigkeit ist die Mission hervorgegangen. Die Mission kommt nicht von einer persönlichen Initiative, sondern von der Dreifaltigkeit. Sie wird geboren indem man in der Dreifaltigkeit lebt. Und von der Dreifaltigkeit leitet sich ein Stil für die Mission ab: „Machen wir uns gut fest in diesem Geist, wenn wir in uns das Bild der anbetungswürdigen Dreifaltigkeit haben wollen und eine heilige Beziehung mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.
Was macht die Einheit und die Gemeinschaft in Gott aus, wenn nicht die Gleichheit und die Verschiedenheit der drei Personen? Und was macht ihre Liebe aus, wenn nicht ihre Ähnlichkeit? Und gäbe es keine Liebe unter ihnen, was wäre liebenswert an ihnen?, sagt der selige Bischof von Genf. In der Heiligen Dreifaltigkeit herrscht also Gleichförmigkeit: was der Vater will, will auch der Sohn; was der Heilige Geist macht, machen auch der Vater und der Sohn; sie handeln alle gleich; sie haben nur eine einzige Macht und ein einziges Wollen. Hier liegt der Ursprung der Vollkommenheit und unser Vorbild.“ (XII, 256-257).
Die Menschwerdung
Die vinzentinische Spiritualität ist zweifellos christozentrisch. Der hl. Vinzenz pflegte selber und empfiehlt auch uns keine besonderen Andachtsformen (für Heilige, für Orte, für Ideen), sondern geht geradeaus auf die Mitte, auf Christus, zu („Tu solus Dominus“). „So ergriffen von der Liebe zu den Geschöpfen“ (XII, 265) hat Christus den Thron des Vaters verlassen, um die Zärtlichkeit Gottes kundzutun: „Diese zärtliche Liebe ist es, die ihn vom Himmel herabkommen ließ; er sah, dass die Menschen seiner Herrlichkeit beraubt waren, und ihr Unglück rührte ihn.“ (XII, 271).
Auf jeden Fall bezeugt uns Vinzenz, dass er Christus wirklich begegnet ist. Vinzenz hat die Stimme Christi erst vernommen als er dem menschlichen Leid der Armen, der nach Brot und Wort hungernden Menschen, begegnet ist. Indem er die Armen gesehen hat, ist er Christus begegnet. Er hat Christus in seinem „Gegenteil“ erblickt.
Für den Heiligen der barmherzigen Liebe ist die Menschwerdung der Ursprung einer neuen Beziehung mit Christus und mit dem Menschen, sie ist der Ursprung eines neuen lebendigen Impulses. „Schauen wir auf den Sohn Gottes! O, welch ein Herz voll Liebe! Welche Flamme der Liebe! O mein Jesus! Sage uns bitte ein wenig, was hat Dich herabgezogen vom Himmel, dass Du gekommen bist, um den Fluch der Erde zu tragen, um so viele Verfolgungen und Qualen zu erleiden? O Heiland! O Quelle der Liebe, erniedrigt bis zu uns und bis zu einer ruchlosen Marter, wer hat darin den Nächsten mehr geliebt als du? Du bist gekommen, dich all unserm Elende auszusetzen, die Gestalt eines Sünders anzunehmen, ein leidvolles Leben zu führen und einen schimpflichen Tod für uns zu erdulden! Gibt es eine ähnliche Liebe? Aber wer könnte auf eine so überragende Weise lieben? Nur Unser Herr ist so entflammt von der Liebe zu den Geschöpfen, dass er den Thron seines Vaters verlässt, um einen Leib anzunehmen, der der Schwachheit unterworfen ist. Und warum tat er es? Um unter uns durch sein Wort und Beispiel die Liebe zu Gott und den Nächsten zu begründen. Diese Liebe hat Ihn gekreuzigt und das bewunderungswürdige Werk unserer Erlösung vollbracht. O, meine Herren, wenn wir nur ein wenig von dieser Liebe hätten, würden wir dann mit verschränkten Armen dastehen? Jene umkommen lassen, denen wir helfen könnten? O nein! Die Liebe kann nicht müßig bleiben; sie nimmt uns für das Heil und den Trost der anderen in Beschlag.“ (XII, 264 ff).
Man versteht, wie der Heilige keine Zeit mit dem Suchen nach Vermittlungen verlor. Er ist Christus begegnet, er hatte die Armen gesehen, er wollte „das Reich Gottes aufbauen“. Der Satz „das Volk stirbt Hungers und geht verloren“ war kein Argument um vom Heiligen Stuhl in Rom Vergünstigungen zu bekommen, sondern eine Dringlichkeit, ein Schmerzensschrei, eine Wunde der Seele. Die Menschwerdung war für ihn kein Geheimnis, das man betrachtet, sondern die Grundlage für sein Tun. Nach Bremond ist es daher, „nicht die Liebe zu den Menschen, die ihn zur Heiligkeit führte, sondern vielmehr hat diese ihn wirklich und wirksam barmherzig gemacht. Nicht die Armen haben ihn Gott gegeben, sondern im Gegenteil, Gott - das heißt, das Menschgewordene Wort - hat ihn den Armen gegeben.“ Darum kann man in Vinzenz nicht einfach einen Mann der Tat, einen Verteiler von Almosen sehen, sondern einen Mann des Gebetes, der der Welt im Wirkbereich Gottes begegnet, wodurch sein Gebet ein Gebet war, das zur Liebe wurde.
Die hl. Louise wiederum lädt die Schwestern ein, eine starke Liebe zu haben, auf eine Weise, dass sie von ihr und vom Armendienst wie besessen seien, so als ob diese beiden Arten der Liebe nur eine einzige wären: „Seien Sie also recht mutig in dem Misstrauen, das Sie gegen sich selbst haben müssen. Das gleiche sage ich zu allen unseren lieben Schwestern. Ich wünsche, dass alle erfüllt seien von einer starken Liebe, die sie in Gott so süß und im Dienste der Armen so liebevoll erhält, dass Ihr Herz so vielen, Ihrer Ausdauer gefährlichen Gedanken keinen Zutritt mehr lassen kann. Mut also, meine lieben Schwestern! Denken wir nur daran, Gott zu gefallen in der genauen Ausübung der Gebote und der evangelischen Räte, da sich Gott in seiner Güte gewürdigt hat, uns dazu zu berufen. Die genaue Befolgung unserer Regeln soll uns dazu behilflich sein, aber wir müssen dabei froh und beschwingt sein. Dienen Sie Ihren Herren mit großer Sanftmut.“ (Schriften, L 441, Seite 76).
Gott um Gottes willen verlassen
Kraft dieser Grundsätze hatte Vinzenz keine Schwierigkeit die Missionare und die Schwestern einzuladen, „Gott um Gottes willen zu verlassen“. Weil die Armen die Armen Jesu Christi sind, sind sie Jesus Christus; und wenn sie folglich Jesus Christus verlassen (die Schwestern und Brüder, die nicht genug Zeit für das Gebet haben; Anm. d. Ü), werden sie ihn in seinen Gliedern wiederfinden. Der Mensch ist folglich das Antlitz Gottes und Gott das Antlitz des Menschen. Die Menschwerdung stand also für Vinzenz am Anfang seiner Anthropologie. Calvet schrieb: „Vinzenz ist unter den Menschen derjenige, der die Menschen am meisten geliebt hat. Er hatte in seinem Herzen das Gefühl der Brüderlichkeit vollkommen verwirklicht, das heißt, er hat geglaubt, nicht in Worten, nicht in Gleichnissen oder philosophischen Erwägungen, sondern radikal, mit seinem ganzen Sein, dass der Schurke, der arme Teufel von der Straße sein Bruder sei. Ein bis zu einem derartigen Grad gesteigertes Gefühl findet man selten. Jeden Tag ließ er zwei Bettler an seinem Tisch Platz nehmen und er bediente sie selbst mit größtem Respekt. Alle Heiligen haben den Armen gedient, um den Geist des Evangeliums nachzuahmen; aber er hat ihnen darüber hinaus mit ganzem Herzen gedient. Als er sich im Priorat Saint-Lazare niederließ, hat er einige, von allen verlassene, aus der Gesellschaft der Menschen ausgestoßene Irre vorgefunden. Er hatte eine so große Liebe und Zuneigung zu ihnen, dass er sich fragte, was ihn am meisten kosten würde, müsste er das Priorat verlassen. Und er kam zu dem Schluss, am schwersten würde er daran tragen, diese armen Irren, für die sich niemand interessiert, verlassen zu müssen.“ Wenn er sich die Devise „Evangelizare pauperibus“ gewählt hat, dann deshalb, weil er überzeugt war, die Mission des Gottmenschen fortzusetzen, der in die Welt gekommen war, der auf seine Vorrechte verzichtet und die Armut erwählt hat, um des Heiles der Menschen willen. Von da her ist seine Spiritualität ganz vom Evangelium geprägt und er wünschte für sie keinerlei „Beifügung“, sie war ganz auf die Dreifaltigkeit und auf die Menschwerdung ausgerichtet.
Friedrich Ozanam hat das sehr gut verstanden. Er ist vielleicht der treueste Interpret des hl. Vinzenz, wenn er schreibt: „Wir müssten uns ihnen zu Füssen werfen und mit dem Apostel zu ihnen sagen: ‚Du bist mein Meister‘. Ihr seid unsere Meister und wir sollen eure Diener sein; ihr werdet für uns das heilige Abbild Gottes sein, den wir nicht sehen und nicht wissend, wie wir ihn auf eine andere Weise lieben sollen, werden wir ihn in eurer Person lieben.“ (An Louis Janmot).
Dienen
Angesichts derartiger Wahrheiten können wir uns nicht mit einer rein rationellen Überlegung begnügen. Das Geheimnis ist nicht etwas zum verstehen, wir werden es nie verstehen, sondern es ist ein Tor durch das man schreitet.
In diesem Jubiläumsjahr sollen wir in die Liebe Christi „eintreten“. Indem wir Christus lieben, werden wir nach Ihm geformt, wir gehören Ihm an und folglich werden wir in die Lage versetzt wie Er, der Künder der Guten Nachricht für die Armen, zu lieben (vgl. Lk 4,18-19): „Gott liebt die Armen, und folglich liebt er auch jene, die die Armen lieben; denn wenn man jemand liebt, dann hat man auch eine Zuneigung zu seinen Freunden und seinen Dienern. Nun, die kleine Gemeinschaft der Mission bemüht sich, den Armen, die Gottes Lieblinge sind, mit Liebe zu dienen; und so haben wir Grund zu hoffen, dass Gott auch uns lieben wird aus Liebe zu ihnen. Gehen wir also, meine Brüder, und dienen wir den Armen mit neuer Liebe und suchen wir die Ärmsten und die Verlassensten. Bekennen wir vor Gott, dass sie unsere Herren und Meister sind und dass wir nicht würdig sind, ihnen unsere kleinen Dienste zu erweisen.“ (XI, 392 ff). Diese Liebe kennt zwei Bewegungen: eine Bewegung nach oben, hin zur Dreifaltigkeit, das ist das Erstaunen, die Anbetung, das Suchen der Gunst; eine andere Bewegung geht nach unten und das ist die Förderung der Armen, die selbstlose Liebe. Es ist wie der Blick Christi vom Kreuz herab, ein Blick, der Liebe in der Not, von einem Gott, der das Bedürfnis hat, geliebt zu werden.
Die hl. Louise sagte, dass wir, „von allem frei, Christus nachfolgen“ sollen (vgl. Schriften A 1, S. 687). Daraus soll ein „freies“, „christozentrisches“ Gebet entspringen, das direkt an Christus gerichtet, vom Evangelium durchdrungen ist, ohne von allzu vielen Andachtsformen überlagert zu werden; ein „verwundetes“ Gebet in dem Sinn, dass wir, wenn wir beten, die Ängste und die Schmerzen der Menschheit nicht ignorieren können; ein „evangelisches“ Gebet, reich an Worten des Glaubens aus dem Evangelium: „Herr, mach, dass ich sehe, Herr, mach, dass ich gehe, Herr, sprich nur ein Wort und dein Diener wird gesund, Herr, Sohn Davids, erbarme dich meiner …“
Konferenzen abhalten
Eine unserer schönsten Traditionen ist die der Konferenz. Das Wort bedeutet „zusammentragen“ (conferre), das heißt unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Ideen miteinander teilen. Gemeinsam über Gott reden.
Lesen wir und verkosten wir einige Auszüge aus Konferenzen:
1. „Möge es der Güte Gottes gefallen, uns diesen Geist zu geben, der sie beseelt (die wahren Missionare), ein großes Herz, weit und hochgemut! Magnificat anima mea Dominum; unsere Seele muss Gott verherrlichen, groß machen, und dazu möge Gott unsere Seele erweitern, er möge er uns eine tiefe Einsicht verleihen, damit wir die Größe und Weite der göttlichen Güte und Macht wohl erkennen, damit wir erfassen, wie groß unsere Verpflichtung ist, ihm zu dienen und ihn auf jede nur möglichen Weise zu verherrlichen; er möge er uns die Weite des Willens verleihen, um jede Gelegenheit zu ergreifen, die Ehre Gottes zu fördern. Vermögen wir auch nichts aus uns selbst, so vermögen wir doch alles mit Gott. Ja, die (Gemeinschaft der) Mission kann alles, weil wir den Keim der Allmacht Jesu Christi in uns tragen; darum ist die Schwachheit mit nichts zu entschuldigen; wir werden immer mehr Kraft haben, als wir brauchen, vor allem, wenn die Gelegenheit da ist, denn in der konkreten Situation fühlt sich der Mensch gänzlich erneuert.“ (XI, 203).
Ist unsere Berufung eine Begegnung oder einfach eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Personen? Sind wir treu im geistlichen Leben? Ist unser Gebet durchdrungen von der Botschaft des Evangeliums oder bevorzugt es andere Quellen? Ist es ein innerliches Gebet? Ist es ein Gebet, das sich auf die Welt hin ausweitet? Widmen wir Zeit der Anbetung? Ist es ein Gebet, das sich auf die Welt hin ausweitet? Ist es ein Gebet zur Verherrlichung Gottes? Wenn wir beten, bringen wir uns zu dieser Verherrlichung dar? Sind wir überzeugt, dass unsere Vinzentinische Familie „alles kann, weil wir in uns den Keim tragen, alles in Jesus Christus zu vermögen“? Haben wir schon die eine oder andere Erfahrung gemacht, die wir mit unserer Gemeinschaft teilen wollen?
2. „Ich darf einen armen Bauern oder eine arme Frau nicht nach ihrem Äußeren beurteilen oder nach der scheinbaren Fassungskraft ihres Geistes. Oftmals haben sie kaum das Aussehen oder den Geist von vernünftigen Menschen, so grob und erdhaft sind sie. Aber drehen wir die Medaille um, dann sehen wir im Licht des Glaubens, dass sich der Sohn Gottes, der arm sein wollte, in diesen Armen uns darstellt. In seinem Leiden sah er fast nicht mehr wie ein Mensch aus. Den Heiden erschien er wie ein Narr, den Juden war er ein Stein des Anstoßes. Aber gerade dadurch erwies er sich als der Freudenbote der Armen: Evangelizare pauperibus misit me. O Gott, wie anders sehen wir die Armen, wenn wir sie in Gott anschauen und mit der Achtung, die Jesus Christus ihnen entgegenbringt! Aber wenn wir sie mit den Empfindungen des Fleisches und mit einem weltlichen Geist betrachten, werden sie uns verachtenswert vorkommen.“ (XI, 32).
Haben die Armen einen Platz im Gebet? Rufen wir uns Gesichter, Situationen, Bedürfnisse in Erinnerung? Haben wir jemals über die Tatsache nachgedacht, dass die Armen nicht mehr „Vater unser“ sagen können. Welche Texte der Bibel könnten uns helfen, dass unser Gebet im Leben der Armen verankert ist?
3. „Wie glücklich sind jene, denen Gott solche Gesinnungen und Wünsche eingibt! Ja, meine Herren, wir müssen ganz Gott angehören und ganz im Dienste der Bevölkerung stehen. Dafür müssen wir uns Gott weihen, dafür uns vor Eifer verzehren, dafür müssen wir unser Leben geben. Wir müssen uns sozusagen entkleiden, um uns mit diesen Gesinnungen zu bekleiden. Wenn wir sie aber noch nicht besitzen, müssen wir sie wenigstens ersehnen, um willig überall hinzugehen, wohin es Gott gefallen sollte, sei es nach Indien oder anderswohin. Kurzum, wir müssen uns gerne für den Dienst am Nächsten zur Verfügung stellen, um das Reich Jesu Christi in den Seelen auszubreiten. Und ich, alt, wie ich bin, muss in mir die gleichen Gesinnungen hegen, um selbst bis Indien zu gehen und dort Seelen für Gott zu gewinnen, auch wenn ich auf dem Wege oder auf dem Schiffe sterben sollte. Was glauben Sie denn, was Gott von uns verlangt? Den Leib. Ach, keineswegs. Was also? Gott verlangt unseren guten Willen und eine aufrichtige und wahre Bereitschaft, alle Gelegenheiten wahrzunehmen, um ihm auch unter Einsatz des Lebens zu dienen. Er will, dass wir diese Sehnsucht nach dem Martyrium haben und in uns nähren. Dieses Verlangen ist ihm manchmal so wohlgefällig, wie wenn wir wirklich als Märtyrer gestorben wären. (XI, 402-403).
„Ganz Gott angehören und ganz im Dienste der Bevölkerung stehen“. Was hindert uns so zu sein? Lesen wir gemeinsam Mt 25, 31-46. Meinen wir den Becher der Dürstenden gefüllt zu haben, die Hand, die um Brot bat und das Herz, das nach dem Wort Gottes fragte?
Luigi Mezzadri, C.M., Provinz Rom