WER IST JESUS FÜR LUISE VON MARILLAC?

 

 

Warum die Menschwerdung?

 

Luise von Marillac liebte es, die Dinge zu klar verstehen. Sie pflegte über die Gründe nachzudenken, die Gott veranlasst haben könnten, seinen Sohn auf die Erde zu senden. Ein Satz fasst ihre Gedanken über das Warum der Menschwerdung zusammen: „Gott hat seinen Geschöpfen nie eine größere Liebe bezeugt, als da er sich entschloss, Mensch zu werden“ (Schriften, 698).

Nachdem Adam Gott in seinem Leben zurückgewiesen hatte, um sich selbst zu seinem eigenen Gott zu machen, ist die Menschwerdung der Beweis für die große Wertschätzung, die Gott für seine Geschöpfe hat. Gott will die Beziehung mit dem Sünder wieder aufnehmen, ihn in seinem tiefsten Leid berühren und sein Vertrauen in sich selber wieder herstellen. Er möchte, dass er die Würde seines Wesens recht versteht, das nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist. Luise von Marillac betont, dass dieser göttliche Wunsch nur in absolutem Respekt vor der Freiheit der Person erfüllt werden könne.

Jeder einzelne kann diese Gnade annehmen oder zurückweisen, je nachdem, wie er oder sie sich entscheidet. Gott bestimmt die menschlichen Entscheidungen nicht im voraus. Jeder Mensch ist frei, er ist also ganz und gar fähig, eine Wahl zu treffen und zu den Initiativen Gottes ja oder nein zu sagen.

 

Verwirklichung der Menschwerdung

 

Luise von Marillac betrachtete gerne die Dreifaltigkeit, wie sie untereinander berät, auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihre ganze Liebe zur Menschheit auszudrücken, und wie sie gemeinsam die Menschwerdung des Wortes beschließt: „Sobald die menschliche Natur gesündigt hatte, wollte der Schöpfer im Rat seiner Gottheit diesen Fehler gutmachen. Und um das zu tun, ordnete er in sehr großer und reiner Liebe an, dass eine der drei Personen Mensch würde. So tritt in der Gottheit selbst eine tiefe Demut zutage ...“ (Schriften, 697).

Die Verheißung der Menschwerdung der zweiten Person der Dreifaltigkeit gehört zum Liebesplan Gottes für das Menschengeschlecht. Für Luise steht Demut ebenso sehr für Gott, wie es die Liebe tut. Gott ist nicht mehr der ferne und fordernde Gott, der dem Volk so oft als der Allmächtige vorgestellt wurde. Die Menschwerdung allein würde genügen, dies zu zeigen, aber viele andere Handlungen im Leben Jesu bestätigen dies ebenfalls. Durch seine Geburt in einem Stall „wurde Jesus zum Kind, um seinen Geschöpfen freieren Zutritt zu verschaffen“ (Schriften, 714). Luise betrachtet „die Demut, die Unser Herr bei seiner Taufe geübt hat“ (Schriften, 715). Bei der Betrachtung der Fußwaschung am Gründonnerstag Abend ruft sie aus: „Es kann nichts mehr geben, was mich hinderte, mich zu verdemütigen, da ich das Beispiel Unseres Herrn habe“ (Schriften, 715). „Jesus hatte ein rechtmäßiges Interesse daran, seine Jünger an ihre Verpflichtung zu erinnern, ihn zu ehren,  aber er nimmt es auf sich, sich soweit zu erniedrigen, seinen Aposteln die Füße zu waschen“ (Schriften, 715).

 

Maria, die Mutter Jesu

 

Die Menschwerdung des Sohnes Gottes ist ganz real. Das Wort wird Fleisch in der Jungfrau Maria. Mit viel Gefühl und Dankbarkeit betrachtet Luise die Wahl, die Gott in Maria, einer einfachen Frau aus Nazareth, getroffen hat. „Gott bestimmte sie zur Mutter seines Sohnes“ (Schriften, 730). Luise von Marillac wusste aus persönlicher Erfahrung, was es bedeutete, einem Kind das Leben zu schenken, es mit dem Intimsten ihrer selbst, ihrem Blut, zu versorgen. Sie möchte das ganze Glück zum Ausdruck bringen, das sie erfüllt hatte: „Nun ist die Zeit der Erfüllung deiner Verheißung gekommen. Sei auf ewig gepriesen, mein Gott, dass du die Heilige Jungfrau erwählt hast… Du hast dich des Blutes der Heiligen Jungfrau bedient, um deinem lieben Sohn einen Leib zu bereiten“ (Schriften, 792).

Alle Würde kommt von ihrer göttlichen Mutterschaft. Luise nennt Maria das „Meisterwerk der göttlichen Allmacht in der rein menschlichen Natur“ (Schriften, 819). Maria preisen, weil Gott sie auserwählt hat, ist das nicht gleichbedeutend mit Gott selber verherrlichen? Er hat die Menschen so sehr geliebt, dass er selbst in ihre Mitte kommen und von Maria seine Menschheit empfangen wollte.

 

Die heilige Menschheit Christi

 

1652 schreibt Luise von Marillac an die Schwestern von Richelieu und erinnert sie, wie wichtig es ist, das Leben des Gottessohnes während seines Aufenthaltes auf Erden zu betrachten. Da würden sie die wahre Liebe finden: „Die Sanftmut, die Herzlichkeit und die Ertragung müssen die Übung der Töchter der christlichen Liebe sein, so wie die Demut, die Einfalt und die Liebe der heiligen Menschheit Jesu Christi, diese vollkommene Nächstenliebe, ihr Geist sind. Das, meine lieben Schwestern, dachte ich, Ihnen sagen zu sollen als eine Kurzfassung unserer Regeln“ (Schriften, 405).

In ihrem langen Brief vom August 1655 an die Schwestern im fernen Polen betont Luise ebenfalls die Wichtigkeit, das menschliche Leben Christi zu betrachten: „Ehren Sie Jesus Christus durch die Übung der Tugenden, die seine heilige Menschheit uns selbst gelehrt hat“ (Schriften, 477).

In ihren letzten Briefen greift Luise dieses Thema nochmals auf. So etwa an Genoveva Doinel zu Weihnachten 1659: „Sie laden mich ein, mich bei der Krippe einzufinden, um Sie beim kleinen Jesus und seiner heiligen Mutter zu treffen … Von ihm, meine lieben Schwestern, werden Sie die Mittel lernen, um die soliden Tugenden üben, die seine heilige Menschheit seit ihrer Ankunft geübt hat. Von seiner Kindheit werden Sie alles erlangen, was Sie brauchen, um wahre Christinnen und vollkommene Töchter der christlichen Liebe zu werden“ (Schriften, 661).

Der Nachdruck, den Luise auf die Betrachtung der Menschheit Jesu Christi legt, zeigt, wie sehr sie wünschte, dass das Leben jeder Tochter der christlichen Liebe ein Widerschein des Antlitzes Christi, seiner unendlichen Güte, seiner beispiellosen Liebe sei. Christus ist wirklich die Regel der Töchter der christlichen Liebe, und auch der ganzen Vinzentinischen Familie.

 

Jesus, der Erlöser

 

Luise von Marillac, die theologisch gut gebildet war, versteht, dass „die Menschwerdung des Sohnes Gottes nach dem Plan ist, den Gott von Ewigkeit her für die Erlösung des Menschengeschlechtes hatte“ (Schriften, 818). Der durch die Sünde verursachte Bruch zwischen Gott und dem Menschen kann nicht für immer sein. Indem Gott seinen Sohn auf die Erde sendet, möchte er den Bund erneuern und dem Menschen die Möglichkeit geben, noch einmal den Sinn seines Daseins zu finden. Die Erlösung, so bemerkt Luise von Marillac, ist eine Neuschöpfung, eine „Re-kreation“, die nur am Ende eines langen Prozesses von Verwandlung, Tod und Wiederauferstehen des Lebens stattfinden kann.

Die leidenden Menschen sind für Luise von Marillac eine Erweiterung der leidenden Menschkeit Christi. Der Dienst der Liebe eines jeden Mitgliedes der Vinzentinischen Familie ist eine Weiterführung der Erlösung, die es jedem armen, gedemütigten, aufgeriebenen menschlichen Wesen ermöglicht, wieder aufzuleben, aufzuerstehen, und ein lebendiger, von seinen Übeln und Sünden befreiter Mensch zu werden, mit einem Wort, frei. Luises bemerkenswerte Überlegung ist ein Widerhall von Gedanken des hl. Paulus, der zu sagen wagte: „Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1, 24).

Die Passion des Sohnes Gottes ist ein für sie so tiefes Geschehen, dass Luise sie in das Siegel der Gemeinschaft der Töchter der christlichen Liebe einfügt: „Die Liebe Jesu Christi, des Gekreuzigten, drängt uns.“ Luise will, dass diese Liebe das Herz jeder Tochter der christlichen Liebe für den Dienst an den am meisten Bedürftigen beseele und entflamme. In der Formel, mit der sie ihre Briefe beendet, erwähnt sie sehr häufig diese einzigartige Liebe, die Jesus am Kreuz bekundet hat: „Ich bin in der Liebe Jesu, des Gekreuzigten, Ihre demütige Dienerin.“ Luise wünscht für sich selber und für diejenige, denen sie schreibt, erfüllt zu sein von der Liebe, die Jesus gedrängt hat, am Kreuz zu sterben. Sie macht sich die Worte des hl. Johannes in dessen erstem Brief zu Eigen: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und uns seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. (1 Joh 4, 16) Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für unsere Brüder und Schwestern das Leben hingeben.“ (1 Joh 3, 16).

 

Die Eucharistie

Die Menschwerdung beschränkt sich nicht auf die Lebenszeit Christi. Als seine Stunde naht, findet Jesus einen Weg, sie in solcher Weise fortdauern zu lassen, dass er immer bei uns ist. Luise von Marillac steht bewundernd vor dem außerordentlichen Geschehen der Eucharistie: „Der Sohn Gottes hat einen menschli­chen Leib angenommen Der Größe seiner Liebe war das jedoch nicht genug, er wollte eine untrennbare Vereinigung der göttlichen Natur mit der menschlichen, er hat sie nach der Menschwerdung hergestellt in der wunderbaren Erfindung des heiligsten Sakramentes des Altares, in dem unaufhörlich die Fülle der Gottheit in der zweiten Person der heiligsten Dreifaltigkeit wohnt.“ (Schriften, 776).

Es schien Luise, dass Gott unaufhörlich der Menschheit seine große Liebe kundtun wollte. Schon die Menschwerdung hat diesen innigen Wunsch nach Vereinigung kundgetan. Die Eucharistie verwirklicht dies auf noch großartigere Weise. Luise von Marillac bleibt nicht beim Aspekt „Gedächtnis und Opfer“ der Eucharistie stehen, sondern spricht lange über die Kommunion als von „dieser wunderbaren und dem menschlichen Sinn unbegreiflichen Tat“ (Schriften, 811).

Den Leib Christi empfangen heißt, so Luise von Marillac, teilhaben am Leben Gottes. Christus gibt sich zur Speise, damit die Menschen daraus neue Kraft schöpfen, um ihren Auftrag in der Welt zu erfüllen. In der Nachfolge Christi sind die Christen aufgerufen, sich mit ihrem ganzen Sein einzusetzen, wenn sie ihrem Nächsten Leben und Liebe bringen wollen. Der Empfang der Kommunion verleiht eine außerordentliche Kraft, denn sie gibt uns die Fähigkeit, in ihm zu leben, da wir ihn lebendig in uns tragen“ (Schriften, S 812).

Als Antwort auf ein solches Geschenk Gottes wünscht Luise für sich selbst und für diejenigen, die sie auf ihrem geistlichen Weg begleitet, „eine innige und liebevolle Verbundenheit mit Gott“ (vgl. Schriften 811). Ist es für ein menschliches Wesen tatsächlich möglich, die Erfahrung einer solchen Vereinigung mit Gott zu machen? Die Zeit der Danksagung nach der Kommunion gibt die Möglichkeit Gott seine ganze Freude und seine ganze Dankbarkeit auszudrücken, denn Christus, der zu uns gekommen ist, macht uns ihm ähnlich! Freuen wir uns, wenn wir diese wunderbare Erfindung und liebevolle Vereinigung, durch die Gott, da er sich in uns sieht, von neuem uns Ihm ähnlich macht durch die Mitteilung nicht nur seiner Gnade, sondern seiner selbst“(Schriften, 811). Luise von Marillac weiß nicht, wie ihrem Herrn und Gott danken, weil er auf diese Weise auf Erden bleiben wollte, damit alle Menschen ihm jene Ehre erweisen können, die seine heilige Menschheit im Himmel schon empfängt.

Schlusswort

Luise hat eine sehr starke und sehr gefühlvolle Vorstellung von der Liebe Gottes. Wie die biblischen Schriftsteller weiß auch Luise, dass „Gott ein verzehrendes Feuer ist“ (Hebr 12, 26). Die Schwestern und alle, die das vinzentinische Charisma teilen, sind eingeladen, im täglichen Leben ihr inneres Wesen von diesem Feuer erfassen zu lassen und die Fülle der Liebe zu empfangen, die der Geist in ihre Herzen ausgießt. In dieser Beziehung werden sie Kraft, Energie und Kreativität finden, ihren Dienst der Liebe bei jenen zu erfüllen, die unter Armut in all ihren Formen, den herkömmlichen und neuen leiden.

Luise weiß, dass Jesus nachfolgen und ihm in seinen leidenden Gliedern dienen heißt, mit einer „nicht gewöhnlichen Liebe“ zu lieben (Schriften, 817), mit einer starken, soliden Liebe, die sich durch keine Schwierigkeit erschüttern lässt. Diese starke Liebe zeigt sich konkret und Tag für Tag in der Aufmerksamkeit für den einzelnen, in der Sanftmut und in der Güte allen gegenüber. Je mehr die Liebe zu Gott wächst, umso mehr wird man sich auch der Würde eines jeden, seiner Freiheit und der Hochachtung bewusst, die man ihm schuldet. Auf diese Weise hat auch Christus seine Liebe bezeugt.

 

          Fragen für persönliche und gemeinschaftliche Überlegungen

 

 

Welche Aspekte Jesu, von denen Luise von Marillac spricht, finden einen Widerhall in Ihrem Herzen?

 

Wie können wir gemeinsam das vinzentinische Charisma vertiefen, damit es unseren Dienst durchdringe und ihm die Richtung weise?

 

 

Verfasst von Schwester Elisabeth Charpy, TdchrL der Provinz Frankreich-Nord,

und von Schwester Louise Sullivan, TdchrL der Provinz Albany/Kanada