Gedenkjahr des heiligen Vinzenz und der heiligen Luise –

zwei grosse Propheten der Nächstenliebe

 

Feste und Feierlichkeiten wollen grundsätzlich für Gruppen und Gemeinschaften ein gemeinsames Erinnern an bedeutende Ereignisse sein. Sie verbinden zu einem bestimmten Zeitpunkt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie geben Zeugnis von unserer Dankbarkeit für das Vergangene, für unser überzeugtes Engagement im Heute und wecken Hoffnung in die Zukunft.

 

Wenn wir den 350. Gedenktag des Todes von Vinzenz und Luise feiern, so wollen wir nicht so sehr ihres Tod an sich gedenken, sondern ihres Todes als Gipfelpunktes ihres Lebens, das eine Spur in die Geschichte hinterlassen, wegen dem, wofür sie während ihres Lebens eingestanden sind. Sie waren Vorbilder der Nächstenliebe. Sie waren zwei große Propheten der Nächstenliebe.

 

Das Feuer wieder entfachen

 

In ihrer Lebensgeschichte, in ihren Briefen oder ihren Konferenzen stehen Vinzenz und Luise als gewöhnliche Menschen vor uns, sie haben ihre Schwächen und ihre Begabungen, aber sie waren imstande, zu großen Höhen der Heiligkeit zu gelangen. Sie zeigen auf außergewöhnliche Weise, wie die Macht der Gnade zerbrechliche Gefäße in wirksame Instrumente der Pläne Gottes umwandeln kann.

 

Vinzenz war ein junger, lebensfroher Mann vom Land, der für sein Leben immer nach neuen Horizonten ausschaute. Sehr früh schon strebte er nach sozialem Aufstieg über das Priesteramt, um seiner so geliebten Familie helfen zu können. Er hatte die ungewöhnliche Begabung, mit vielerlei Personen Beziehungen aufzubauen – mit Armen und Reichen, mit Leuten aus Kirche und Politik, mit Vornehmen und Ungebildeten, Männern und Frauen, Ordensleuten und Laien. Später wird er diese Begabung in den Dienst der guten Sache stellen, um seinen Traum wahr zu machen: den Dienst an den Armen. Ihr Menschen von heute, die ihr ständig auf der Suche nach « mehr » seid, ihr könnt vom Leben des Herrn Vinzenz lernen.

 

Wenngleich Luise von Geburt an während ihrer Erziehung ständig vom Leid begleitet war, ließ sie sich doch nicht aufhalten, den Zielen für ihr Leben nachzugehen. Sie war eine liebevolle Gattin, eine hingebungsvolle Mutter, immer in Sorge um ihren einzigen Sohn. Als Witwe ist sie eine unermüdliche Helferin, vor allem für die Armen. Als sie mit Hilfe des heiligen Vinzenz die Berufung ihres Lebens entdeckt, wird sie seine treue Mitarbeiterin. Miteinander gründen sie die Töchter der christlichen Liebe, die in ihrer Zeit auf einem radikal neuen Weg ein gottgeweihtes Leben führen. Heute finden viele Frauen, Ordensfrauen, Laien, Ehelose, Witwen, und Verheiratete, in Luise ein Vorbild, das zeigt, dass man Ziele erreichen kann trotz der Grenzen, die die Geburt, die Veranlagung, die Umstände auferlegen.

 

Auch 350 Jahre nachher inspirieren Vinzenz und Luise Generationen von Menschen. Das Feuer ihrer Nächstenliebe brennt und bringt viele zum Brennen. Möge das Gedenkjahr in uns dieses Feuer neu entfachen. Dann wird es die Vergangenheit in eine lebendige Gegenwart verwandeln.

 

Sie haben zu träumen gewagt

 

Vinzenz und Luise verfolgten während ihres Lebens einen Traum, an den sie unerschütterlich glaubten ... dieser Traum glich einem Feuer, das sie verzehrte. Sie träumten davon, sich ganz hinzugeben, um Jesus Christus zu folgen, indem sie den Armen ihrer Zeit dienten und ihnen das Evangelium verkündeten. Dieser Traum war für sie wie der Polarstern, der sie bei jeder Entscheidung leitete und bei jedem Schritt, den sie setzten.

 

Allerdings sind Vinzenz und Luise nicht mit diesem Traum auf die Welt gekommen. Sie hatten wahrlich andere Träume, als sie jung waren ... Träume, wie wir sie alle haben. Je mehr sie aber versuchten diese ersten Träume zu verwirklichen, umso häufiger gerieten sie in Unannehmlichkeiten, in Misserfolge, auf unerwartete verschlungene Umwege, so als ob eine unsichtbare Hand auf diesem Weg der Umsetzung dazwischen griffe.

 

Allmählich verstanden Vinzenz und Luise den Sinn dieser Ereignisse, die sie vom Ziel ihrer Träume zu entfernen schienen. In Wirklichkeit waren es die geheimnisvollen Wege Gottes, die sie zur Erkenntnis der Berufung ihres Lebens führten. Vinzenz und Luise waren bereit für diese Offenbarung; sie ließen sich vom Heiligen Geist führen.

 

Sowohl Luise als auch Vinzenz wurden für einige Zeit von schweren Glaubens-zweifeln gequält ... Zweifel, die für sie wahrhaft „dunkle Nacht“ waren. Für Luise war es ihre lichtvolle Erfahrung und für Vinzenz der feste Entschluss, den Armen zu dienen, die ihr Leben verändert haben. Von diesem Augenblick an bis zum Schluss war Gott ihr alles. Sie haben ihre ersten Träume beiseite geschoben, um dem Ruf Gottes zu folgen ... einem Ruf, der sich mit Hilfe von Ereignissen und Personen entfaltete. Sobald sie die Hand am Pflug hatten, blickten sie nicht mehr zurück.

 

In einer Zeit der endlosen religiösen und politischen Kriege und zugleich einer unvorstellbaren Armut, wagten Vinzenz und Luise einen augenscheinlich unmöglichen Traum zu träumen. Aber mit der Vorsehung als Führung und Stütze, mit den außerordentlichen Gaben, mit denen die Natur sie reich beschenkt hatte und unter segensreichen Umständen nahm der Traum von Vinzenz und Luise allmählich Gestalt an: die Caritasvereine, die Kongregation der Mission, die Damen der Caritas und die Töchter der christlichen Liebe.

 

Vinzenz und Luise gingen diesem Traum mit fester Überzeugung nach, dabei waren sie sich nicht bewusst, dass sie neue Wege beschritten, die dazu betragen würden, die Kirche und die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts in Frankreich und darüber hinaus bedeutend zu erneuern.

 

 

Ihren Traum heute lebendig erhalten

 

Wenn wir uns an Vinzenz und Luise erinnern, sind wir dankbar für das Charisma, das Gott ihnen gegeben hat ... ein Charisma, das sie als Gründergestalten an die Vinzentinische Familie als Gabe an die Kirche und an die Welt weitergegeben haben.

 

Die kreative Treue ist die andere Seite unseres Dankes für diese Gabe an Vinzenz und Luise. Diese Treue führt uns an die Anfänge der vinzentinischen Geschichte zurück ... sie lädt uns ein, die Gegenwart im Licht ihres Traumes zu lesen ... ihren Traum wieder nachzulesen im Licht des gegenwärtigen Augenblicks.

 

Wären Vinzenz und Luise heute unter uns, was würden sie uns sagen? Wie würden sie auf die neuen Situationen antworten, vor denen wir heute stehen? Welche Entscheidungen würden sie treffen?

 

In vielerlei Weise ist unsere Welt grundlegend anders als die Welt von Vinzenz und Luise. Wie müssen in einer Welt, die neue Armutsformen hervorgebracht hat, die der Armut neue Gesichter gibt, unsere Prioritäten aussehen? Zu wem sollten wir zuerst gehen? Vinzenz und Luise waren immerfort achtsam auf die Ereignisse als « Orte » der Begegnung mit dem Heiligen Geist. Wie können wir in einer Welt, die besessen ist vom „Sofortigen“ und vom „Super-Schnellen“ noch aufmerksam bleiben und unterscheiden?

 

Wie beeinflusst heute das Wissen um den starken Einfluss von Beziehungen, sozialen Strukturen und des Umfeldes eines Menschen unseren « Dienst an der ganzen Person »?

 

Welches « MEHR » kann in einer Zeit fast absoluten Vertrauens in die Technologie und in die Wissenschaft, in den Erfolg und die Kompetenz unser vinzentinischer Dienst unseren Zeitgenossen anbieten?

 

Unsere Welt möchte eine inklusive (alles einschließende) Welt sein, sie will über alle Grenzen von Rasse, Stamm, Klasse, Geschlecht oder Religion hinweggehen. Was bedeutet dies konkret für unsere Werke unter die Armen … für die Praxis unserer Zusammenarbeit?

 

Unsere Welt ist immer mehr säkularisiert, sie dreht sich um sich selber ... gleichzeitig aber sorgt man sich um die soziale Gerechtigkeit. Welche Herausforderung ist das für unseren vinzentinischen Dienst, für den eine Vision des Glaubens und eine Motivation der Nächstenliebe ursprünglich sind?

 

Wir gedenken des Todes von Vinzenz und Luise mitten in einer nie da gewesenen weltweiten Krise ... in einer moralischen, kulturellen, wirtschaftlichen und geistlichen Krise. Wie begreifen wir den Traum von Vinzenz und Luise im Licht dieser Realität?

 

Das Volk Israel hat über seinen Bund mit Jahve nachgedacht ausgehend von seiner Krise, in die sie das Exil gestürzt hat. Dabei haben sie den Sinn ihrer Identität als Volk Gottes neu entdeckt. Im Licht seiner Erfahrung der Armen und der Verwirrung, die die Gesellschaft und die Kirche seiner Zeit zu zerreißen drohte, hat Vinzenz das Evangelium erneut gelesen. Und er hat die Berufung seines Lebens gefunden, einen Traum Wirklichkeit werden lassen, der seine Zeit zutiefst geprägt hat.

 

Gut das Gedenken an den Tod von Vinzenz und Luise feiern meint : in vertiefter Weise über ihre Lebensgeschichte, ihre Schriften nachsinnen, auf die Fragen hören, die uns die heutige Zeit stellt, uns von ihnen herausfordern lassen und gemeinsam auch einige Antworten suchen. Damit halten wir auch heute ihren Traum lebendig.

 

 

Miteinander weitergehen …

 

Wir sind Erben einer großen Hinterlassenschaft ... wir sind Söhne und Töchter zweier großer Propheten der Nächstenliebe. Dieses gemeinsame Erbe lässt uns stolz sein. Unsere Bande untereinander werden fester. Mit einer so großen Zahl von Mitgliedern auf allen Kontinenten haben wir als Vinzentinische Familie ein großes Potential, das unsere Zeit prägen kann, wie es auch Vinzenz und Luise in ihrer Zeit getan haben.

 

Hier die Geschichte eines jungen Mannes, des Sohnes eines hervorragenden Baseball-Spielers. Seine erste Spiel-Saison war enttäuschend. Zur Halbzeit der zweiten Saison bekam er wirklich Angst, aus dem Team hinauszufliegen.

 

Eines Tages gelang ihm als Schlagmann ein Home Run, ein besonderer Punkt. Er fand zu sich selbst. Von da an traf er beständig. Das war eine Wendepunkt. Mit der Zeit kam er in die höchste Spielklasse. Jemand fragte ihn: „Was war der Grund für diese große Veränderung?“ Er sagte, der Schiedsrichter, der seinen Vater spielen gesehen hatte, meinte zu ihm: „Ich sehe seine Gene in dir. Du hast die Arme deines Vaters.“

 

Wir tragen die Gene von Vinzenz und Luise in uns. Wir haben ihr Herz und ihren Geist. Die Treue zu ihrem Erbe drängt uns, gemeinsam voranzuschreiten ... um Propheten der Nächstenliebe in der jetzigen Welt zu sein. Die heutige globale Wirklichkeit etwa der gigantisch großen transnationalen Firmen, der Zusammenlegungen und der vernetzten Betriebe verlangen nach einem kollektiven (gemeinsamen) Zeugnis. Sie fordern uns auf, nicht nur als einzelne Propheten zu werden, sondern mehr noch, eine „Familie von Profeten“ zu werden.

 

In einer Zeit, in der die Ungerechtigkeit globale Formen annimmt, ruft uns der Traum von Vinzenz und Luise auf, Netzwerke der Nächstenliebe in der Vinzentinischen Familie auszubauen. Netzwerke der Aufmerksamkeit auf die Ereignisse und für die Armen, die kreativ und mutig in ihren Antworten sind, offenbaren fortwährende Neuheit des vinzentinischen Charismas. Sie schaffen Wellen der Hoffnung in die Zukunft hinein.

 

Für uns als Vinzentinische Familie ist das Gedenkjahr des Todes von Vinzenz und Luise eine Zeit der Gnade, eine wertvolle Zeit, « um unsere Wurzeln tiefer greifen zu lassen in der Nächstenliebe und zugleich unsere Zweige in der Mission zu entfalten » … um prophetisch zu sein und Hoffnung zu erzeugen. Bemühen wir uns, uns danach auszustrecken.

 

«Es ist gewiss, wenn in einer Seele die Liebe wohnt, nimmt sie alle ihre Kräfte für sich: sie gewährt keine Ruhe mehr; sie ist ein Feuer, das immer tätig ist; sie hält die Person, die von ihr entzündet ist, immer in Atem, immer in Tätigkeit.».

(SV, Gebetswiederholung, 4 August 1655)

 

« Ich bitte euch, euren lieben Herren auch weiterhin mit großer Sanftmut, mit Hochachtung und Herzlichkeit zu dienen, indem sie immer Gott in ihnen sehen». (Geistliche Schriften, Brief 361, Juni 1653)

 

Anhaltspunkte für eine persönliche Überlegung

 

1. Wie hat die Lebensgeschichte von Vinzenz und Luise ganz konkret mein Leben beeinflusst?

2. Welche Herausforderung, die die heutige Welt an unseren vinzentinischen Dienst für die Armen stellt, gibt mir am meisten zu denken? Warum? Welche Schritte könnten wir als Vinzentinische Familie tun, um auf diese Herausforderung zu antworten?

3. Welche Hoffnungen hegst du für:

a. dich als Mitglied der Vinzentinischen Familie,

b. deinen Zweig der Vinzentinischen Familie,

c. in die weltweite Vinzentinische Familie, damit der Traum von Vinzenz und Luise lebendig bleibt?

 

Verfasst von Schwester Julma C. Neo, TdchL der Provinz Philippinen